Eine Sprache — drei Welten: wie sich Deutsch in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterscheidet
Wenn wir von „der deutschen Sprache“ sprechen, meinen wir meistens einen einheitlichen Standard — Hochdeutsch. In Wirklichkeit gibt es aber mehrere nationale Varianten: in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie sind gegenseitig verständlich, haben jedoch eigene Nuancen in Wortschatz, Grammatik, Aussprache und sogar in der Sprachpraxis. Werfen wir einen Blick in diese spannende Welt der Unterschiede.
Wörter, die verraten, wo Sie sind
Stellen Sie sich vor, Sie betreten eine Bäckerei. In Berlin bietet man Ihnen ein Brötchen an, in Wien eine Semmel, und in Zürich ein Brötli. Dasselbe Gebäck, unterschiedliche Namen.
Weitere Beispiele:
Kartoffel
die Kartoffel
der Erdapfel
die Härdöpfel
Tomate
die Tomate
der Paradeiser
die Tomate (im Dialekt auch Tomaate)
Sahne/Kochrahm
die Sahne
der Schlagobers
der Rahm
Aprikose
die Aprikose
die Marille
die Aprikose
Gefüllter Krapfen (Berliner)
der Berliner
der Krapfen
der Berliner / Krapfen
Tüte/Tragetasche
die Tüte
das Sackerl
das Sackli
Fahrrad
das Fahrrad
das Radl (ugs.)
das Velo
Tram/Straßenbahn
die Straßenbahn
die Bim (ugs.)
das Tram
Mülleimer
der Mülleimer
der Mistkübel
der Kübel
Fußgängerüberweg
der Zebrastreifen
der Schutzweg
der Fussgängerstreifen
E-Mail
die E-Mail
das E-Mail
das E-Mail
Geldautomat
der Geldautomat
der Bankomat
der Bancomat
📌 Kurz gesagt:
Die österreichische Variante liebt Diminutive und „gemütliche“ Wörter (Sackerl, Semmel, Radl).
Der deutsche Standard orientiert sich stärker an der Schriftsprache, hat aber im Alltag ebenfalls Regionalismen.
Jedes Wort trägt einen kulturellen Unterton: Österreicher bewahren ältere Formen, die Schweizer vereinfachen und machen vieles „auf ihre Art“, und Deutsche halten sich eher an den „Standard“.
📢 Der Wortschatz fällt sofort auf, aber auch die grammatischen Unterschiede zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz sind spannend.
Die wichtigsten auf einen Blick:
1. Präteritum vs. Perfekt
In Deutschland wird das Präteritum häufig verwendet — besonders schriftlich, aber auch mündlich (vor allem mit Modalverben und sein/haben).
Gestern schrieb ich einen Brief.
In Österreich und der Schweiz dominiert in der gesprochenen Sprache fast immer das Perfekt.
Gestern habe ich einen Brief geschrieben.
➡ Am Klang erkennt man schnell „deutsch“ vs. „österreichisch/schweizerisch“.
2. Genusunterschiede
Manche Substantive haben unterschiedliche Artikel:
die E-Mail ↔ / das E-Mail
der Event ↔ das Event
der Virus (IT) ↔ das Virus
3. Präpositionen und Rektion
In Österreich und der Schweiz hört man teils andere Muster:
ich gehe ins Kino
ich gehe ins Kino (auch korrekt), umgangssprachlich oft: ich geh Kino (ohne Artikel).
im Dialekt: i gang i Kino.
➡ Morphologie/Wortbildung: Am Suffix erkennt man die Region.
5. Pluralbildung
Einige Pluralformen unterscheiden sich:
das Risiko – die Risiken
/ bisweilen auch die Risikos.
6. Die „tun + Infinitiv“-Periphrase
In Österreich und Süddeutschland ist das Hilfsverb tun beliebt:
ich helfe dir
ich tu dir helfen (ugs.)
In der Schweiz hört man es ebenfalls: ich tue das machen.
7. Höflichkeitsform „Sie“
In Teilen der Schweiz ist die Anrede du auch gegenüber Unbekannten akzeptabel (vor allem in lokalen Gemeinschaften), während in Deutschland und Österreich die Distanz meist länger gewahrt wird. Das ist eher Pragmatik als Grammatik.
8. Wortstellung
In Österreich werden Konstruktionen bisweilen vereinfacht:
Ich weiß nicht, ob er heute kommt.
/ Ich weiß nicht, ob er kommt heute. (umgangssprachlich, nicht standardsprachlich).
9. Artikel bei Ländernamen
häufiger: im Iran, im Irak.
/ verbreitet ohne Artikel: in Iran, in Irak.
10. Temporaladverbien
nächstes Jahr
oft: im nächsten Jahr („im kommenden Jahr“).
im Dialekt sogar nächstes Jahrli ?
11. Orthografie: ß verschwindet
Die Schweizer sind konsequent: den Buchstaben ß verwenden sie nicht.
Deutschland & Österreich: Straße.
Schweiz: Strasse.
Dieses Detail verrät sofort die Herkunft eines Textes.
📌 Fazit:
Deutschland → grammatikalisch konservativ, hält sich eng an den Duden.
Österreich → flexibler, lässt umgangssprachliche Einsprengsel zu (tun + Infinitiv), mitunter anderes Genus und andere Wortstellung.
Schweiz → stark vom Dialekt geprägt; selbst Hochdeutsch ist dort oft regional gefärbt.
Deutsch in Deutschland, Österreich und der Schweiz — drei „Sprachwelten“, die einander bestens verstehen und doch ihre Eigenheit bewahren. Für Lernende gilt:
Prüfung in Deutschland: am Standard-Hochdeutsch orientieren;
in Österreich sind Formen wie das E-Mail oder die Semmel passend;
in der Schweiz nicht über „Strasse“ und das allgegenwärtige Perfekt wundern.
Gerade diese Vielfalt macht die Sprache besonders: lebendig, flexibel und ein Spiegel der kulturellen Vielfalt Europas.
🎓 Und was bedeutet das für Prüfungen?
Für alle, die sich auf Goethe-Zertifikat, telc oder ÖSD vorbereiten, ist die Frage „Welche Variante soll ich lernen?“ sehr praktisch.
📌 Einige Tipps:
Goethe-Zertifikat und telc (internationales Format)
Diese Prüfungen orientieren sich vorrangig am deutschen Standard (Bundesdeutsch).
In Schreibaufgaben daher besser die E-Mail, die Kartoffel, das Brötchen, die Tomate verwenden.
In der Grammatik klassischen Satzbau und im Schriftlichen häufiger das Präteritum nutzen.
ÖSD (Österreichisches Sprachdiplom Deutsch)
Österreichische Varianten sind ausdrücklich zulässig.
das E-Mail, die Semmel, der Paradeiser, der Erdapfel gelten nicht als Fehler — im Gegenteil: Sie zeigen Kenntnis der österreichischen Norm.
In der Grammatik dennoch möglichst nah am Standard bleiben (Perfekt mündlich okay; im Schriftlichen nicht übertreiben).
Schweiz (Goethe/telc, in der Schweiz abgelegt)
Formal gelten dieselben Standards wie in Deutschland.
In der mündlichen Prüfung sind das Velo oder das Tram als regionale Varianten völlig natürlich.
Und Strasse statt Straße im Schriftlichen ist völlig normal und kein Fehler.