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Lesen lernen mit über 30 – Wie Erwachsene den Mut fassen, ihre Schwäche zu überwinden
In Deutschland gelten laut Bundesverband Alphabetisierung rund 6,2 Millionen Menschen als funktionale Analphabeten. Sie können einzelne Wörter lesen, aber keine längeren Texte verstehen. Ein wachsender Teil davon holt das Versäumte im Erwachsenenalter nach. Doch der Weg ist nicht leicht.
Von Nicole Wendrich
Als Tom Berger zum ersten Mal an einem Alphabetisierungskurs teilnahm, war er 34 Jahre alt. „Ich hatte Schweiß auf der Stirn, als ich meinen Namen auf das Anmeldeformular schreiben sollte.“ Heute, knapp ein Jahr später, sitzt er jede Woche zusammen mit zehn anderen Erwachsenen in einem hellen Raum im Lernzentrum Süd in Kassel. Einmal pro Woche treffen sie sich für drei Stunden. Es geht nicht nur ums Lesen, sondern auch um Selbstvertrauen, Teilhabe und Würde.
Verstecken im Alltag
Viele Betroffene haben lange Strategien entwickelt, um ihre Schwierigkeiten zu verbergen. Sie bitten andere, Formulare auszufüllen, oder sagen, sie hätten die Brille vergessen. Tom, gelernter Lagerarbeiter, konnte jahrelang Zahlen und Symbole problemlos lesen – aber keine Arbeitsanweisung, keinen Mietvertrag, keinen Arztbrief. „Ich hatte oft Angst, dass es auffällt. Ich habe mich dann dumm gestellt oder gesagt, ich hätte es eilig.“
Auch Ayla Demir, eine 43-jährige Mutter von drei Kindern, lebt seit ihrer Kindheit mit einer massiven Lese- und Schreibschwäche. Ihre Schulzeit war geprägt von ständiger Unsicherheit. „Ich habe nie um Hilfe gebeten. Ich habe alles vermieden, was mit Schreiben zu tun hatte.“ Erst als ihr Sohn Probleme mit der Rechtschreibung bekam, entschloss sie sich, selbst Hilfe zu suchen. Heute besucht sie dreimal pro Woche einen Kurs, während ihr jüngstes Kind im Nebenraum betreut wird.
Ursache: oft unentdeckt
Laut Studien liegt der Ursprung des funktionalen Analphabetismus oft in einer unzureichenden Schulbildung, familiären Belastungen oder mangelnder individueller Förderung. Viele Betroffene haben die Schule zwar besucht, aber keine ausreichende Lese- und Schreibkompetenz erworben. Besonders gefährdet sind Personen mit Migrationshintergrund, instabiler Kindheit oder unregelmäßigem Schulbesuch.
Die Kursleiterin Kathrin Möller erklärt: „Wir haben hier ganz unterschiedliche Biografien – Handwerker, Hausfrauen, Menschen mit Jobs und ohne. Sie alle eint, dass sie den Mut gefunden haben, sich dem Problem zu stellen.“ Möller unterrichtet seit zwölf Jahren. Neben Buchstabentraining stehen auch Alltagssituationen auf dem Programm: Formulare ausfüllen, E-Mails schreiben, eine Jobanzeige verstehen.
Neue Chancen durch Bildung
Viele Teilnehmer berichten, dass sich ihr Alltag durch den Kurs erheblich verbessert hat. Sie sind unabhängiger, müssen nicht mehr andere bitten, etwas für sie zu lesen oder zu schreiben. Auch die emotionale Wirkung ist enorm. „Ich fühle mich wie ein Mensch, der dazugehört“, sagt Ayla Demir. Sie kann jetzt selbst die Schulpost ihrer Kinder lesen – ein kleiner, aber bedeutender Schritt.
Ein anderer Teilnehmer, Klaus Tiedemann (51), hatte jahrelang Angst vor jedem Behördenbrief. „Früher habe ich Briefe einfach weggeworfen. Jetzt verstehe ich sie endlich.“ Besonders stolz ist er darauf, dass er seiner Tochter beim Bewerbungsschreiben helfen konnte.
Die Wartelisten für solche Kurse sind lang. Immer mehr Menschen wollen die Scham ablegen und ihren Alltag selbstständig gestalten. Dennoch bleibt Analphabetismus ein Tabuthema in Deutschland. Umso wichtiger sind Programme, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Mut machen.