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Keine Angst mehr vor Buchstaben
In der Schweiz leben nach aktuellen Schätzungen (Bundesamt für Statistik, Stand 2023, potenziell veränderlich) rund 750 000 bis 900 000 Erwachsene, die trotz Schulbesuchs nicht sicher lesen oder schreiben können. Einige beginnen erst später im Leben damit, die versäumten Grundlagen neu zu lernen.
Ein neuer Anfang – trotz Unsicherheit
„Das Gespräch mit meinem Vorgesetzten lief wirklich gut“, erzählt Lukas Merian seiner Lerngruppe und wirkt dabei zugleich stolz und vorsichtig optimistisch. „Auch beim Reden fühle ich mich heute viel sicherer.“
Der 34-Jährige lächelt zaghaft. „Es hat sich wirklich gelohnt, hier anzufangen.“
Neben ihm sitzt Mara Belatti, die ebenfalls seit zwei Jahren Teil des Kurses ist. Die Frauen und Männer dieser Gruppe arbeiten daran, das aufzuholen, was sie irgendwann in ihrem Leben aufgegeben hatten: Lesen und Schreiben. Einmal pro Woche treffen sie sich, sprechen über ihre Fortschritte, ihre Rückschläge — und motivieren sich gegenseitig.
Jahrelanges Verbergen
Fast ein Jahrzehnt arbeitete Mara Belatti bei einer großen Versicherungsfirma in Altmünster.
„Kurze Texte wie Witze oder einfache Notizen verstand ich“, erzählt die heute 46-jährige Mutter. „Aber schreiben konnte ich nur meine Adresse.“
Sie hatte dafür ein bemerkenswert gutes Gedächtnis für Zahlen und Details, was vielen Kolleginnen und Kollegen gar nicht auffiel. Erst als sie ihren späteren Mann kennenlernte, wurde es schwierig:
„Ich hatte panische Angst, ihm zu sagen, dass ich kaum schreiben kann. Ich dachte, er hält mich dann für unfähig.“
Tim Wagner, ein weiterer Teilnehmer, kämpft bis heute mit starken Schwankungen zwischen Hoffnung und Entmutigung.
Da seine Eltern oft umgezogen seien, habe er in der Schule keinen Anschluss gefunden. „Als ich vor drei Jahren zu diesem Kurs kam, konnte ich überhaupt nichts“, sagt der inzwischen 37-Jährige. „Ich schämte mich so sehr, dass ich kaum Kontakte hatte und fast immer allein war.“
Heute kann Tim sich deutlich besser ausdrücken und beteiligt sich zum ersten Mal in seinem Leben aktiv an Gesprächen.
Ganz zufrieden ist er trotzdem noch nicht:
„Wenn ich eine Zeitung lese, stolpere ich oft über Wörter, die ich nicht verstehe. Dann packt mich die Verzweiflung — und manchmal werfe ich den Text einfach weg. Es fühlt sich an, als hätte ich einen kleinen Dämon in der Hand.“
Mehr Selbstvertrauen durch Lernen
Lese- und Schreibschwächen belasten das Selbstwertgefühl stark, erklärt Dr. Simone Hardegger, Kursleiterin im Verein Schreiben Lernen für Erwachsene. Deshalb gehe es im Unterricht nicht nur um Grammatik oder Rechtschreibung.
„Wir trainieren auch, wie man über Probleme spricht, wie man um Hilfe bittet und wie man sich selbst ernstnimmt“, betont Hardegger.
Der wichtigste Moment sei oft der, in dem die Teilnehmenden merken: Ich bin nicht allein damit.
Nach zwei Jahren seien viele kaum wiederzuerkennen.
Manche wagen sich erstmals an anspruchsvollere Stellenanzeigen, andere gewinnen ein Stück ihrer Freiheit zurück.
Jonas Keller, ein weiterer Kursteilnehmer, erinnert sich gut an frühere Situationen:
„Früher konnte ich nie mitreden, wenn andere über einen Zeitungsartikel sprachen. Ich hatte Angst, alles falsch zu verstehen und mich zu blamieren.“
Heute beteiligt er sich regelmäßig an Diskussionen – entspannt und ohne Angst, ausgelacht zu werden.

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